Wer in Russland demonstriert, geht oft ein hohes Risiko ein. Ist es irrational zu protestieren? Was haben die Bolotnaja-Proteste 2011–2013 verändert? Und wie unterscheiden sich die Kundgebungen der Putin-Unterstützer von denen der Putin-Gegner? Luzia Tschirky (SRF) hat den Zeithistoriker und Soziologen Mischa Gabowitsch interviewt.
Luzia Tschirky:Was würden Sie sagen: Ist es nicht eigentlich irrational, überhaupt zu protestieren in Russland?
Mischa Gabowitsch: Nein, irrational ist das überhaupt nicht. Es kann ja ganz verschiedene Beweggründe geben für Protest. Zum einen will man vielleicht einfach etwas ganz Konkretes erreichen, und es gibt genug Fälle, wo unter anderem durch Protest, aber auch durch Briefeschreiben, oder andere Kommunikationsformen tatsächlich ein Ziel erreicht wurde. Das andere ist: Man protestiert ja nicht nur, um strategisch ein Ziel zu erreichen, sondern zum Beispiel, um einfach mit anderen zusammen zu sein, die ähnlich denken und fühlen. Auch das kann für das eigene Leben, für die eigene Entwicklung sehr wichtig sein. Und man kann nicht sagen: „Es ist irrational, aus diesem Grund auf die Straße zu gehen.“ Also Beweggründe gibt es sehr viele, und ich würde die wenigsten davon als irrational abstempeln.
Haben sich in den vergangenen Jahren die Beweggründe der Leute, zu protestieren, in Russland verändert?
Dadurch, dass es einfach mehrere richtig große Protestwellen gegeben hat, um das Jahr 2012 herum zum Beispiel für faire Wahlen, dann gegen die Rentenreform und so weiter, hat sich so eine Art von Protestbühne entwickelt. Ganz oft ist es so: Man geht nicht unbedingt auf eine Protestaktion, weil es einem um das offizielle Anliegen geht, für das protestiert wird, sondern weil man einfach mit anderen kommunizieren will. Das heißt, es hat eine engere Verzahnung gegeben zwischen verschiedenen Protestanliegen, und ich glaube, das ist vielleicht die wichtigste Veränderung. Schon davor, in den 1990er Jahren, in den 2000er Jahren, wurde ja immer wieder und an vielen verschiedenen Orten protestiert. Aber diese Proteste waren meistens fast vollkommen isoliert voneinander. Es haben sehr unterschiedliche Menschen protestiert, die voneinander oft nicht einmal wussten.
In den vergangenen Jahren wurde immer wieder geschrieben, in Russland würden sehr viele Jugendliche an den Demonstrationen teilnehmen: Was sagen Sie dazu?
Was man festhalten kann, ist: In Russland, wie eigentlich in allen postsozialistischen Ländern, demonstrierten in den 1990er Jahren vor allem alte Menschen. Zum einen, weil die Jungen einfach mit Überleben beschäftigt waren. Sie mussten Geld verdienen, die meisten hatten mehrere Jobs gleichzeitig. Denen fehlte schlicht und einfach die Zeit. Bei der ersten großen landesweiten Protestwelle 2011 bis 2013 hat man zum ersten Mal gemerkt: Es waren ganz viele Menschen so um die, ganz grob gesagt, um die Mitte 30 dabei. Man kann das überhaupt nicht auf die reduzieren, aber sie waren auf jeden Fall sehr präsent. 2017 gab es eine große Protestwelle, die tatsächlich in erster Linie von Alexej Nawalny und seinen Unterstützern organisiert wurde. Da hat man wirklich, vielleicht weniger in Moskau, aber landesweit, gemerkt: Es waren ganz viele Schüler oder ganz, ganz junge Menschen dabei.
Womit lässt sich das erklären: Hat dies mit der Form der Mobilisierung durch Alexej Nawalny zu tun?
Auf jeden Fall, ja. Die neuen Kommunikationsmittel, Stichwort Internet, sind natürlich sehr, sehr wichtig. Das ist das eine, und das andere ist vielleicht, dass es eine jüngere Alterskohorte gibt, die vielleicht die repressive Reaktion des Staates noch nicht so mitbekommen hat, die vielleicht einfach noch keine Angst hat. Was sich natürlich spätestens in dem Moment ändert, in dem sie an Protesten teilnehmen, die dann niedergeknüppelt werden.
Sie sagen, das löse Angst aus, wenn man niedergeknüppelt wird. Aber kann das nicht bei den Leuten auch zu einer stärkeren Radikalisierung und einer stärkeren Überzeugung vom eigenen Protest führen?
Ja, aber eher bei einer Minderheit. Ich denke, in den Fällen, wo ein Protest wirklich brutal niedergeschlagen wird, da gibt es in Moskau ein paar Beispiele, aber in der Provinz ganz viele, führt das doch meistens eher dazu, dass man vorsichtiger wird. Bei einer Minderheit sicher auch zu einer Radikalisierung. Das ist klar. Es gibt immer Menschen, die auch einen Gefängnisaufenthalt in Kauf nehmen. Aber natürlich nicht in der Masse. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Protest brutal zusammengeschlagen wird und dann plötzlich am nächsten Tag 10.000 Menschen gerade deshalb auf die Straße gehen. In Russland zumindest ist das im Moment kaum möglich.
Wenn man sich die Veränderungen in Russland ansieht, seit der letzten größeren Protestbewegung 2011–2013: kann man sagen, dass die Stabilität, die vom politischen System unter Wladimir Putin versprochen wird, dass diese Stabilität seither nicht mehr wie zuvor eingehalten werden konnte?
Es ist immer eine Frage dessen, was man als Stabilität bezeichnet und womit man das vergleicht. Man muss immer dazu sagen, trotz sinkender Öl- und Gaspreise, trotz der Sanktionen gegen Russland gibt es viele Dinge im russischen Alltag, die merklich besser werden. Auch wenn man als Analytiker sagen kann: „Ja, aber das wird alles auf Pump finanziert. Es kommt nicht allen gleich zugute“ und so weiter, sehen doch sehr viele Menschen in ihrem Alltag: „Guckt mal: Die Infrastruktur wird besser!“ Das fängt an mit Leihfahrrädern in Moskau, mit einem besseren Bankensystem und so weiter. Das Alltagsleben wird weiterhin komfortabler für viele.
Kann man dies auch über die Regionen von Russland sagen?
Das ist sehr unterschiedlich. Für einige Regionen: Ja. Für andere: Nein. Die Schere wird größer. Das ist ganz eindeutig. Ich denke, für jeden Einzelnen – um zur Ausgangsfrage zurückzukommen: „Wann ist es rational zu protestieren?“ Für jeden Einzelnen ist es im Moment meistens rationaler, sich um das eigene Alltagsleben zu kümmern, also die eigene berufliche Situation zu verbessern oder zu versuchen, die eigenen finanziellen Probleme zu lösen. Dann kommt aber der Punkt, an dem man sagt: „Es geht nicht weiter.“ Dieses Gefühl des „Nicht-Weiterkommen-Könnens“: Das könnte in Zukunft natürlich eine Quelle von neuem Protest sein. Aber in welche Richtung dieser Protest dann geht? Das kann man nicht vorhersagen. Man darf auch nicht den Fehler machen, immer zu sagen oder zu denken: „Jeder Protest in Russland ist automatisch ein Protest gegen Korruption, für eine Demokratisierung und für prowestliche Reformen und Freundschaft mit westlichen Ländern.“ Auf gar keinen Fall.
Luzia Tschirky: Womit lässt sich erklären, dass sich heute der Protest in Russland stärker auf konkrete Themen fokussiert? Geschieht dies aus Eigeninitiative der Protestierenden, oder aufgrund fehlender Möglichkeiten sich anders politisch zu engagieren?
Ich denke, da gibt es mehrere Gründe. Der Protest damals im Dezember 2011, das war für ganz viele so eine Art Initialzündung. Das war das erste Mal, dass sie auf einer sehr persönlichen und emotionalen Ebene mitbekommen haben, wie korrupt das System sein kann. Anhand der Wahlfälschung, über die ganz, ganz viele freiwillige Wahlbeobachter berichtet haben. Und das war eine Protestwelle oder ein Protestzyklus über mehrere Monate, der vielen Menschen zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben hat, sich überhaupt ein bisschen klarzuwerden: „Was gibt es da für mögliche Reaktionen? Mit wem kann ich zusammenkommen? Über welche Themen können wir überhaupt sprechen? Wen gibt es da eigentlich noch? Was gibt es für verschiedene politische Strömungen? Was gibt es für Oppositionsbewegungen?“ Ganz viele Menschen kamen auf die Demonstrationen, nicht mit einem konkreten strategischen Anliegen: „Wir wollen jetzt das System verändern, wir wollen jetzt zumindest erreichen, dass die nächsten Wahlen fairer ablaufen.“ Sondern einfach aus einem Gefühl heraus: „Ich muss jetzt irgendwie mit anderen zusammenkommen und mich irgendwie austauschen, mit ihnen reden, auf emotionaler Ebene merken, dass ich nicht allein bin mit meinem Frust.“
Das hat sich dann in verschiedene Richtungen entwickelt. Die Einen waren dann irgendwann enttäuscht und müde und haben gesagt: „Okay, wenn wir jetzt noch ein zehntes Mal auf die Straße gehen, wieder mit denselben lustigen Slogans, dann bringt das doch nichts.“ Dadurch hat sich der Protest ein bisschen verfächert und konkretisiert. Die Leute sind sozusagen ausgeschwärmt, vielleicht in verschiedene Bereiche, weil sie gemerkt haben: „Ich bin irgendwie frustriert durch das System als Ganzes. Aber mich persönlich betrifft jetzt vor allem zum Beispiel, dass dieses alte Gebäude hier im Stadtzentrum von Sankt Petersburg abgerissen werden soll, ohne dass mich jemand gefragt hat, der ich ja hier wohne.“ Oder: „Mich persönlich betrifft, dass hier irgendwo ein Bergwerk gebaut werden soll.“ Dadurch haben sich die Themen konkretisiert. Viele haben auch den Eindruck gewonnen, man kann zu konkreten Themen auf die Straße gehen und etwas erreichen. Das hat man ja zuletzt gesehen mit dem Fall des Journalisten Iwan Golunow.
Wenn die Themen ganz verschieden sein können, für welches, oder gegen welches, die Leute am gleichen Tag demonstrieren: Was eint die Leute denn? Wo sieht man denn da überhaupt Überschneidungen bei den Menschen?
Es gibt im Prinzip zwei große Typen von Verbindungen. Das eine ist so eine Art strategische Koalitionsbildung. Also man schaut: Was sind die Anliegen, die sozusagen in unserem Programm als Oppositionsbewegung oder Partei stehen? Was gibt es da für Überschneidungen? Das ist das Eine und das kommt ziemlich häufig vor. Das Andere ist: „Wir alle haben einen ganz engen emotionalen Bezug zu irgendeinem Thema.“ Zum Beispiel zu diesem Wald, durch welchen jetzt gerade eine Umgehungsstraße gebaut werden soll. Interessant für mich als Forscher ist: Das sind oft die Bewegungen, die eine viel längere Dauer haben. Die zum Beispiel sehr viel trotziger sind gegenüber Repressalien. Am wenigsten sind da irgendwelche professionellen Oppositionellen beteiligt.
Wie kann man sich das erklären, dass die Opposition bei so langfristigen Protesten in Russland eigentlich eine untergeordnete Rolle spielt?
Das, was man in Russland als Opposition bezeichnet, also Vertreter richtiger professioneller oder oppositioneller Bewegungen, Parteien und so weiter: Denen geht es ja in den meisten Fällen, oder ging es bis vor kurzem, vor allem um eine Reform des Gesamtsystems. Das erklärte und klare Ziel war: „Wir wollen das System demokratisieren!“ Das heißt, es geht ihnen meistens gar nicht um konkrete Anliegen. Also wenn sie sehen: „Hier mit diesem Umweltthema zum Beispiel kommen wir im Moment nicht weiter, das ist zu brisant, zu gefährlich, zu mühsam, zu langwierig“, dann schalten sie einfach um und nehmen sich ein anderes Thema vor. Aber die Leute vor Ort, denen es eben um ihren konkreten Fluss geht, oder um ihren konkreten Spielplatz, der jetzt einem neuen Wohngebäude weichen soll, die sagen: „Ja, Moment, das ist ja schön und gut, dass ihr das System reformieren wollt und unseren Spielplatz nur als Beispiel oder als Fallstudie nehmt. Aber uns geht es doch konkret hier um dieses Problem. Wenn ihr jetzt plötzlich weiterzieht und das korrupte System woanders bekämpft, dann haben wir ja gar nichts davon!“ Das ist eine ständige Quelle von Konflikten innerhalb der Protestbewegungen.
Was könnte dies langfristig zur Folge haben, wenn es bei Protesten in Russland stärker um konkrete Themen geht und weniger um grundsätzliche Kritik am politischen System?
Es gibt beides. Es gibt den generellen Protest, und es gibt einen immer weiter differenzierten Protest zu konkreten Anliegen. Was das zur Folge haben wird? Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es ganz, ganz lange so weitergeht. Kein einzelner Protest der letzten Jahre war für das politische Gesamtsystem in Russland wirklich eine radikale Herausforderung. Das merkt man gerade, wenn man es mit Nachbarstaaten vergleicht. Nichts, was auch nur annähernd das Ausmaß gehabt hätte von den großen ukrainischen Protesten. Zum Teil war das so, weil das auch keiner will. Aber es gibt immer wieder Gerede davon, dass man doch bitteschön jetzt die sozialen Proteste mit den politischen Protesten irgendwie zusammenbringen soll. Aber weil inhaltlich die Anliegen sehr unterschiedlich sind, ist das nur sehr schwer machbar. Das bedeutet: Es gibt ein eingespieltes Instrumentarium, mit dem der Staatsapparat auf solche Proteste reagiert. Also ganz grob gesagt: Zuckerbrot und Peitsche. Und das kann auch noch ganz, ganz lange weiterhin Anwendung finden. Ein anderes Szenario wäre vielleicht der Idealfall. Eine allmähliche Reform von unten, oder von innen. Dass man sich irgendwann sagt: „Lassen wir doch ein paar oppositionelle Kandidaten zu.” Dann könnte man sich vorstellen, dass sich zumindest in einigen Regionen oder in einigen Institutionen ein bisschen was verändert. Aber das ist natürlich für diejenigen, die jetzt gerade am langen Hebel sitzen, ein sehr, sehr großes Risiko. Die dritte Möglichkeit, von der viel geredet wird, halte ich eigentlich im Moment für unwahrscheinlich. Dass es tatsächlich zu einer Art von großem Knall kommt. Nawalny, oder wer auch immer, kommt an die Macht, wird zum Präsidenten und am nächsten Tag bricht die Demokratie aus. Dafür sehe ich eigentlich überhaupt keine Anhaltspunkte. Ich könnte mir einen teilweisen oder auch einen größeren Wechsel des politischen Personals vorstellen. Aber ob dies es zu einem grundlegenden Wandel in der Gesellschaft führt? Das wäre für mich eine offene Frage.
Der Bürgermeister von Moskau hat diese Woche die Proteste der vergangenen Woche kommentiert mit: Diese Leute haben versucht, den Amtssitz des Bürgermeisters zu stürmen. Steht dieser Kommentar im Zusammenhang damit, dass Demonstranten als gewalttätige Umstürzler dargestellt werden sollen? Wie ist das einzuschätzen?
Genau, es ist ja nicht nur in Russland, sondern auch in anderen postsowjetischen Staaten ein Dauerargument: „Wir wollen Ruhe und Stabilität! Bloß kein Chaos!“ Also besser Autoritarismus, besser eine starke Hand, als das Chaos der 1990er Jahre, Kriege, gewalttätige Umstürze und so weiter und so fort. Und ironischerweise wird in Belarus zum Beispiel davon gesprochen: „Guck mal, bei uns ist doch alles stabil und friedlich, anders als in Russland, das ständig an irgendwelchen Kriegen beteiligt ist!“ In Russland wird gesagt: „Guck mal, bei uns ist wenigstens alles stabil, anders als in der Ukraine, wo es alle paar Jahre eine gewalttätige Revolution gibt.“
Das Dauerthema ist: „Die Oppositionellen sind Feinde des Volkes und verleiten die jungen Leute zu gewalttätigen Handlungen, weil sie das Land ins Chaos stürzen wollen. Ihnen ist wichtiger, dass sie selbst an die Macht kommen, als dass die Leute ihre Ruhe haben.“ Und deshalb ist immer das Argument, auch wenn es überhaupt nicht stimmt, dass zu Gewalt aufgerufen wird, dass es den Versuch eines gewalttätigen Umsturzes gibt.
Aus meiner Sicht ist das eigentlich Ironie, denn die Protestbewegung in Russland ist vielleicht die am wenigsten revolutionäre, zumindest auf der Nordhalbkugel heutzutage. Es ist ein Mantra fast aller Oppositionsbewegungen in Russland, dass man ja bloß keine Revolution will, sondern eine Reform: „Wir wollen das System demokratisieren und nicht stürzen. Wir wollen kein Blut, wir wollen keine Revolution. Wir wollen einfach nur, dass die Gesetze eingehalten werden.“
Kann man sich das in einem größeren historischen Kontext mit der Oktoberrevolution erklären? Das Russland auch 100 Jahre später noch von der Oktoberrevolution traumatisiert ist?
Ich denke eher mit den 1990er Jahren. Die 1990er Jahre waren für einige eine Erfahrung nie dagewesener Freiheit und unbegrenzter Möglichkeiten. Aber für den Großteil der Bevölkerung natürlich eine Erfahrung von Chaos, Armut, unklaren Regeln und Gewalt. Da das die erste Periode war, die sich offiziell Demokratie nannte, wird natürlich dieses Chaos mit Demokratie in Verbindung gebracht. Auch das ist natürlich ein Grund, warum jetzt seit ein paar Jahren zum ersten Mal viele junge Leute auf die Straße gehen. Denn das ist die erste Altersgruppe, die das nicht selbst erlebt hat. Denen man nicht mehr mit diesem Argument kommen kann: „Erinnert ihr euch denn nicht an das Chaos der 1990er?“ Die können das gar nicht, weil sie damals noch gar nicht geboren waren.
Was würden Sie sagen: Lässt sich in der Reaktion der Polizei auf die Proteste ein Muster erkennen, das sich erklären lässt?
Das ist immer ein Stück weit Spekulation. Abschließend könnte man diese Frage beantworten, wenn man in die Köpfe oder die Smartphones der Verantwortlichen reinschauen könnte, was wir nicht tun können. Aber ich denke schon, dass man sagen kann, in dem Moment, wo die Protestierenden ein bisschen zu mutig werden und ihnen das Gefühl erster Erfolge zu Kopf steigt. Also jedes Mal wenn es mehrere große Demonstrationen hintereinander gegeben hat und die Teilnehmer sagen: „So, jetzt hört ihr uns endlich zu! Wir sind straffrei zu Zehntausenden eben durch das Moskauer Stadtzentrum marschiert.“ Da wird dann immer draufgehauen. Einfach, um den Leuten zu zeigen, was Sache ist. Aber es ist eine sehr komplexe Dynamik, nicht nur zwischen den Protestierenden und der politischen Elite. Weder das eine noch das andere ist jemals ein monolithischer Block, sondern vor allem innerhalb des Staatsapparats gibt es eine ganz, ganz komplizierte Dialektik, die von außen meistens überhaupt nicht einsehbar ist, die aber letztendlich ganz vieles davon erklärt, was wir dann auf dem Platz und auf den Straßen sehen.
Wie nutzen Oppositionelle, wie zum Beispiel Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, die Protestbewegung für ihre eigenen Ziele und Zwecke?
Wenn man sich zum Beispiel Nawalnys gescheiterte Kampagnen ansieht, als er versucht hat, an der Präsidentschaftswahl teilzunehmen und Unterschriften gesammelt hat, damit er als Kandidat registriert wird: Damals ist er durch das ganze Land getuckert, hat sich überall mit Aktivisten getroffen. In vielen Fällen waren das nicht nur seine Unterstützer, sondern es waren Leute mit konkreten Problemen. Taxifahrer, die mit korrupten Beamten zu tun haben, oder ein Schüler im Fernen Osten, der öffentlich irgendwas über Politik gepostet und deshalb Probleme in seiner Schule bekommen hat, Umweltaktivisten und so weiter und so fort. Das wurde von einem Team von Dokumentarfilmern begleitet und dokumentiert. Deshalb kann man sich viele Szenen ansehen, und mir ist aufgefallen, das ist doch jemand, der diese mediale Aufmerksamkeit ganz geschickt ausnutzt und sagt: „Guckt mal: Die Taxifahrer, die unterstützen mich auch, und die Umweltaktivisten unterstützen mich auch!“ Letztendlich geht es ihm aber nicht um diese lokalen Anliegen, sondern er versucht das alles zu bündeln und zu sagen: „Erstes und einziges Ziel im Moment ist, dass ich an der Wahl teilnehmen darf. Alles andere kommt danach! Erstmal muss man das System reformieren – dann lösen wir eure Probleme!”
Worin unterscheiden sich Kundgebungen, die von Unterstützern von Wladimir Putin organisiert wurden, von Kundgebungen, die aus der Gegnerschaft organisiert wurden?
Der große Unterschied ist natürlich der, dass die Organisatoren dieser Aktionen alles Menschen sind, die sehr eng mit dem Staatsapparat verbunden sind. Ganz gleich in welcher Rolle sie offiziell auftreten. Viel stärker ist auch die interne Kontrolle auf diesen Demonstrationen. Das heißt: Es gibt nicht nur außen rum Metallzäune und Detektoren, durch die man reingeht, und dann ist man im Raum des Protests, und innen drin fühlt man sich frei und hat das Gefühl: „Okay, ich bin jetzt in so eine Insel gedrängt, aber zumindest bin ich unter meinesgleichen und kann hier erzählen und singen, was ich will!“ Sondern auf diesen Pro-Putin Demos gibt es so eine Art Endoskelett, wo innerhalb des Protestraums ganz viele Polizisten oder vor allem Staatsdiener in Zivil unterwegs sind, die immer horchen: „Sagt einer etwas, was er nicht sagen soll?“ Denn der Sinn des Ganzen ist ja ein Fernsehbild. Man will im Fernsehen zeigen können: „Schau mal, da sind 200.000 Menschen, die Putin unterstützen!“ Auch wenn viele von denen tatsächlich aus ganz authentischen und ehrlichen Beweggründen gekommen sind, wird immer sehr, sehr streng kontrolliert, dass keiner ausschert, dass keiner aus der Reihe tanzt. Das ist, so denke ich, der größte Unterschied.