„Wir sind die Macht“: Protest als Politik

Entsteht politischer Protest als Graswurzelbewegung? Oder werden Aktivisten von politischen Akteuren gezielt rekrutiert? Beides stimmt – und stimmt auch nicht, sagt Jan Matti Dollbaum.

Text: Jan Matti DollbaumVideo: Svoboda.org; YouTube; Youtube; Youtube10.09.2019

Mit seiner Kampagne gegen Korruption konnte der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny viele junge Menschen als politische Aktivisten gewinnen. Wie hat er sie erreicht? Und sind sie nur Instrumente in Nawalnys „politischen Spielchen“? Antworten gibt Jan Matti Dollbaum , der dafür wissenschaftliche Interviews mit Aktivisten geführt und Umfragen ausgewertet hat.

ch nein, ich glaube, ich glaube es wird kein Problem sein [lacht] … auf alle diese Fragen zu antworten …“

Sascha  – 21 Jahre, der Erscheinung nach ein Teenager – ist beim Interview nervös. Er verhaspelt sich, setzt neu an. Wenn er ins Erzählen kommt, strahlen seine Augen, dann wieder verdunkelt sich seine Miene, wenn er angestrengt nachdenkt, um sich zu erinnern. Immer wieder lächelt er – in der ungewohnten Situation mit dem jungen Wissenschaftler, der da neugierig fragend vor ihm sitzt, geht es auch darum, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen.

Sascha ist zur Zeit des Interviews in Nowosibirsk im September 2017 gerade einmal ein paar Monate Aktivist in der Kampagne des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny zur Präsidentschaftswahl 2018. Er ist einer von 23 Interviewpartnern des Forschungsprojekts, das im Herbst 2017 in insgesamt sieben Großstädten durchgeführt wurde. Die Interviews folgten einem Leitfaden, der die persönliche Motivation und die politischen Überzeugungen der Befragten ergründen sollte, aber auch die Erfahrungen, die sie in Nawalnys Kampagne machten. Sascha steht hier beispielhaft für die vielen Neulinge, die die Kampagne an den politischen Aktivismus heranführte.

ascha sagt im Interview, er sei „immer irgendwie an Politik interessiert gewesen“, habe sich aber bislang nie engagiert. Im März 2017 stieß er dann auf Nawalnys Video , in dem dem russischen PremierministerDimitri MedwedewKorruption vorgeworfen wurde. Das Video verbreitete sich rasant und erreichte in wenigen Wochen über zehn Millionen Aufrufe (über 31 Millionen bis heute).

„Ich habe diesen Film gesehen, der hat bei mir echt einen Nerv getroffen. Ich wusste schon vorher, dass es in Russland Korruption und den ganzen anderen Mist gibt, aber der, also der Film, hat mich dann dazu gebracht, aktiv zu werden“.

Als es am 26. März 2017 in Nowosibirsk eine Demonstration unter dem Motto „Wir fordern eine Antwort“ gibt, geht Sascha hin. Nawalnys Kampagne organisiert solche Kundgebungen in verschiedenen Orten im ganzen Land. Sie sollen eine Reaktion von Premierminister Medwedew auf die schweren Korruptionsvorwürfe hervorrufen. Sascha lernt dort andere junge Leute kennen, die ihn einladen, im Kampagnenbüro vorbeizuschauen, das gerade erst eröffnet worden ist.

„Davon wusste ich auch nicht viel. Also, als Freiwilliger habe ich ab April aktiv mitgemacht. Ab April hab ich, ja im Grunde, bei allem mitgemacht“.

Und jetzt ist er selbst dabei – mittendrin. Er weiß, wo sie die Flugblätter verstecken, wenn die Polizei mal wieder unangemeldet das Büro durchsucht. Er kennt die Argumente, wenn ein Verwandter schimpft, Sascha solle sich nicht für die politischen Ambitionen anderer einspannen lassen. Und er ist mittlerweile per Du mit einigen Größen der lokalen Aktivistenszene, die im Nowosibirsker Kampagnenbüro Vorträge und auf den Demos Reden halten.

Die Demonstration am 26. März ist für Sascha – und für viele andere – ein besonderes Erlebnis, das den Lauf ihres Lebens erst einmal entscheidend verändert. SoziologInnen wie Donatella della Porta oder Olivier Filieule , die sich mit der sozialisierenden Wirkung von Protest beschäftigen, schreiben solchen Ereignissen eine geradezu transformatorische Kraft zu: Sie reißen einen Menschen aus seinen gewohnten Lebenszusammenhängen und eröffnen ihm eine neue Perspektive auf sich selbst und die Umwelt. Sie können aber auch einfach dazu führen, dass man Leute kennenlernt, von denen man sonst nie gehört hätte – wie in Saschas Fall.

Alexej Nawalnys Kampagne hat diese sozialen Mechanismen des Protests erfolgreich eingesetzt: Zunächst ein Video, das sich viral verbreitet und insbesondere junge Menschen anspricht. Dann eine Demonstration, die außergewöhnliche emotionale Erlebnisse und die erste Erfahrung kollektiver Aktion vermittelt. Junge Leute, die sich für etwas engagieren wollen, können sich gut mit der stylischen und dynamischen Kampagne identifizieren. Da sie zudem straff zentral (manche sagen auch: autoritär) organisiert ist, brauchen die neuen Aktivisten keinerlei Vorkenntnisse. Weitere Protestaktionen, die die Kampagne (nun bereits unter Mithilfe zahlreicher Erstmobilisierter) in den Regionen durchführte, schaffen ein Gemeinschaftsgefühl, das sich teilweise auch aus der gemeinsam erlebten Repression und Gegenmobilisierung  durch Anti-Nawalny-Gruppen speist. Eine Welle junger AktivistInnen entsteht.

awalny kanalisiert hier also zum einen bestehende Unzufriedenheit in sein politisches Projekt und mobilisiert zum anderen Menschen mit Freude an gemeinsamer Aktion, die nach und nach zu einem Team zusammenwachsen. Dass Protestaktionen gezielt in politische Kampagnen eingebettet werden, bedeutet aber nicht, dass der Protest selbst unauthentisch oder unberechtigt und damit illegitim wäre, wie dies manchmal von regierungsfreundlichen Kommentatoren zu hören ist. 

Die Geschichte Osteuropas zeigt zudem, dass Massenproteste, die konkrete Gegen-Eliten unterstützen, zu anhaltenden demokratischen Veränderungen führen können. Voraussetzung dafür ist, dass die Zivilgesellschaft diese Gegen-Eliten nach ihrer Machtübernahme kontrollieren kann, was oft nicht gelang – zum Beispiel bei den Farbrevolutionen in Georgien oder der Ukraine. 

Aber muss man nicht sagen, dass die jungen Leute, die sich der Kampagne anschlossen, zumindest leichtfertig und unbedacht gehandelt haben? Sascha jedenfalls erwähnte im Interview, dass ein Verwandter ihm vorgeworfen habe, er lasse sich naiv für „politische Spielchen“ missbrauchen. Aber dieser Vorwurf verkennt, dass Sascha eine eigene Entscheidung getroffen hat und spricht ihm – und allen anderen Aktivisten – damit die Handlungsfähigkeit ab. Immerhin gab es durchaus gute Gründe gegen sein Engagement: Saschas Freunde, sagt er, waren zunächst keineswegs von Nawalny überzeugt. Daher sei er allein zur Demo am 26. März gegangen – womit auch ein persönliches Risiko verbunden war.

Angesprochen auf mögliche Repressionen und persönliche Probleme, die sich aus seiner Aktivität für ihn ergeben könnten, erklärt er:

„Ehrlich gesagt hoffe ich, dass es keine Probleme geben wird, doch mir ist klar, dass es nicht ausgeschlossen ist. Ich weiß nicht, wie sie aussehen könnten, aber klar, es kann alles Mögliche passieren.“

n welchem Umfang konnte die Kampagne Newcomer wie Sascha für sich gewinnen? In welchem Maße setzte sie auf die Mitwirkung erfahrener Aktivisten?

Es scheint der Kampagne also einerseits gelungen zu sein, eine relativ große Gruppe von jungen Mitstreitern ohne Vorerfahrung zu rekrutieren .

Wenngleich also Nawalnys Kampagne viele Neulinge mobilisierte, wurde sie keineswegs nur von Leuten wie Sascha getragen.

it Hilfe von Protest kann eine politische Kampagne aber nicht nur neue Aktivisten gewinnen: Sie kann darüber hinaus auch versuchen, politische Punkte zu machen. Das funktioniert zum einen darüber, Bilder zu erzeugen, die breite Unterstützung suggerieren: Wer im ganzen Land Menschen hinter seiner Botschaft versammeln kann, der muss wohl einen gewissen Rückhalt genießen. Aus diesem Grund versuchen Parteien und etablierte öffentliche Akteure zuweilen, sich an Graswurzelprotest anzuhängen, um ihre eigenen politischen Projekte zu befördern. Die Aktivisten verwahren sich oft ausdrücklich dagegen und versuchen sich von allen politischen Kräften zu distanzieren. 

Zum anderen kann eine politische Kampagne auch versuchen, repressive Reaktionen auf ihren Protest umzudrehen und zu nutzen, um den Gegner zu „entlarven“ oder sein Verhalten in ihrem Sinne zu deuten. Ein gutes Beispiel sind die Tweets von Nawalny und seinen Kollegen, mit denen sie Repressionen oder Einschränkungen der Kampagnenarbeit für politische Botschaften nutzen:

Das funktioniert selbst dann, wenn gar keine Demonstration zustande kommt: Als Nawalny im Herbst 2017 eine Tour durch die Städte in ganz Russland plante, um seine Kampagne mit Live-Auftritten zu befeuern, sandte sein Team Anfragen an dutzende Stadtverwaltungen .

Nach einer ersten Runde erfolgreich angemeldeter Auftritte begannen die Behörden, die Mehrzahl der Anfragen – oft entgegen dem Gesetz – abzulehnen. Die Kampagne versuchte daraufhin nicht nur, die Veranstaltungen auf privaten Grundstücken abzuhalten, sondern veröffentlichte kurzerhand auch ihre Planungsliste, die vor allem aus roten Absagen besteht.

Einzelne orangefarbene Sprenkel in dieser roten Tabelle dürfen nicht täuschen: das sind Antworten wie „veranstaltet eure Aktion um 10 Uhr morgens irgendwo hinter der Stadt“ / Text und Bild © Leonid Wolkow

Protest spielt auf diese Weise eine zentrale Rolle für die Darstellung (oder: das Framing) des politischen Gegners. Sich selbst stellt die Kampagne als gut organisiert und gesetzestreu dar. Die Institutionen dagegen, die eigentlich politisch neutral sein sollten, wie Polizei und die lokalen Behörden, würden – so die Botschaft – für den politischen Machterhalt Wladimir Putins und der Regierungspartei eingesetzt, indem sie legitimen Herausforderern systematisch Steine in den Weg legten.

Wenngleich die Kampagne diese Diagnose zuspitzt und vereinfacht, liegt sie damit doch insgesamt nicht weit von den Ergebnissen der Forschung, die sich mit sogenannten hybriden Regimen beschäftigt . Diese sind formal demokratisch geregelt und missbrauchen zugleich staatliche Institutionen, um den politischen Handlungsspielraum politischer Herausforderer einzuschränken.

Zum Beispiel werden Kandidaten und Parteien aufgrund „formaler Fehler“ bei der Registrierung oft gar nicht erst zur Wahl zugelassen, oder Demonstrationen werden unter mehr als fadenscheinigen Begründungen unterbunden .

Hinzu kommt im Falle Nawalnys das seit Jahren bestehende inoffizielle Auftrittsverbot im staatlich kontrollierten Fernsehen. Eine umso wichtigere Rolle  in der politischen Kommunikation kommt daher dem Protest zu und den Reaktionen, die er provoziert.

Und dies hat sich, wie Sascha im Interview erklärt, bis nach Nowosibirsk herumgesprochen:

„Ein Freund hat gedacht, dass auch dieser Alexej Nawalny und die ganze Kampagne, dass das alles irgendeine Abzocke ist, Betrug und so, aber er hat seine Meinung extrem geändert, mir scheint, jetzt, nach den letzten Ereignissen. Wenn ich ihm zum Beispiel erzähle, dass sie Nawalny wieder mal festgenommen haben, dann fragt er: „Warum?“ Ich hab ihm dann erklärt, dass er Leute aufgerufen hat, zu einer Versammlung zu kommen, die genehmigt war. Dann sagt er: „Das ist doch einfach nur Willkür.“ Ihn beginnt das jedenfalls auch aufzuregen.“

n Saschas Geschichte und Nawalnys Kampagne lässt sich beispielhaft erkennen, wie Protest als Teil größerer politischer Projekte funktioniert: Da ist einerseits ein etablierter Akteur wie Nawalny, der zusammen mit seinen Strategen ein langfristiges Ziel verfolgt: Nawalny will Putin als Präsidenten Russlands ablösen und – das erklärt er zumindest jetzt – Russland dabei sowohl demokratischer und rechtsstaatlicher machen als auch die enorme ökonomische Ungleichheit bekämpfen.

Andererseits gibt es Menschen, die sich für politische Veränderung einsetzen wollen – sei es aus Unzufriedenheit, aus Freude am Engagement, oder einer Mischung aus beidem. Ohne diese Menschen, ihre Ideen und ihren Enthusiasmus wäre Nawalny wohl einfach ein Anwalt und Anti-Korruptions-Aktivist. Erst die strategische Planung der Kampagne aber macht es möglich, dass sich diese unterschiedlichen Menschen für ein gemeinsames Ziel einsetzen – dass ihr Widerstands-Impuls kanalisiert wird.

Nawalnys Kampagne beruhte also auf einer Verschränkung von top-down- und bottom-up-Elementen. Das muss nicht immer so sein: Bei der Protestbewegung von 2011–13 und den Protesten gegen die Nichtzulassung der unabhängigen KandidatInnen im Sommer 2019 überwog das Element der spontanen, wenig zielgerichteten Massenmobilisierung. Die Unterstützung bestimmter politischer AkteurInnen stand weniger im Vordergrund, obwohl natürlich strategische Planungen ebenfalls eine Rolle spielten. Die Gewichtung dieser Elemente ist also von Protest zu Protest verschieden. Beide sind aber notwendig für anhaltenden und erfolgreichen Protest mit politischen Zielen.

Zwischen top-down und bottom-up besteht aber zugleich ein latenter Konflikt. So werden etwa Sozialproteste oft von der Kommunistischen Partei unterstützt, wie zum Beispiel die Demonstrationen gegen die Erhöhung des Rentenalters im Jahr 2018. Die KPRF bringt dabei Finanzen, Organisationskapazität und Erfahrung (zum Beispiel im Umgang mit Repression und Gerichtsverfahren) ein, was dem Protest oft nützt. Allerdings werfen Aktivisten ihr, wie oben angedeutet, auch zuweilen vor, sie nutze den Protest vor allem für ihre eigenen Zwecke.

Derartige Spannungsverhältnisse zwischen politischen Akteuren und Graswurzel-Bewegungen gibt es auch in anderen Ländern und unter anderen politischen Rahmenbedingungen. Für die russische Gesellschaft, in der Politik lange Zeit kaum öffentlich stattfand und echter politischer Wettbewerb systematisch unterbunden wird, sind sie aber besonders charakteristisch. Denn einerseits wird politisches Engagement oft nicht als „normal“, sondern als schmutziges Geschäft und eigennützig empfunden, andererseits sind oppositionelle Akteure stärker als in offeneren politischen Systemen auf die Aufmerksamkeit und die Mobilisierungswirkung angewiesen, die Protest entfaltet. Gerade unter diesen Umständen erfüllt Protest also eine wichtige politische Funktion.


Jan Matti Dollbaum hat Politikwissenschaft und Slawistik in Heidelberg, Sankt Petersburg, Mainz und London studiert. Promoviert wurde er an der Universität Bremen mit einer Arbeit zu den Bedingungen von Protestentwicklung nach großen Mobilisierungswellen – mit einem Fokus auf lokalen Protest in Russland. Zurzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen.