Jugendprotest in Umfragen

Text: Jan Matti Dollbaum04.06.2019

Die Frage „Wer protestiert?“ lässt sich аuf zweierlei Weise beantworten: Zum einen, indem man in Interviews nach individuellen Beweggründen  fragt. Zum anderen, indem man versucht, mit Umfragedaten  Aussagen darüber zu treffen, was Protestierende von der Gesamtbevölkerung unterscheidet.

Gwendolyn Sasse  und Félix Krawatzek  vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin (ZOiS)  haben im April 2018 in Russland eine Online-Umfrage unter 2000 Jugendlichen aus urbanen Räumen durchgeführt, in der es unter anderem um Protest ging. Wir berücksichtigen hier etwa 1100 davon, die auf alle relevanten Fragen geantwortet haben. 

Die Umfrage soll natürlich nicht nur etwas über diese Befragten aussagen, sondern ihre Ergebnisse auf andere Menschen übertragen, die nicht direkt befragt wurden (man sagt auch: die Ergebnisse werden generalisiert). Allerdings: Diese Umfrage erlaubt nur Aussagen über Menschen in der Altersgruppe zwischen 16 und 34 Jahren aus den Metropolen Moskau und Sankt Petersburg sowie aus Großstädten wie Nowosibirsk oder Samara. Gerade für Protest ist das aber keine unwichtige Gruppe, denn junge Menschen in Großstädten sind oft eine treibende Kraft. So war es bei der Bolotnaja-Bewegung im Jahr 2012, und so war es auch 2017 bei den Protesten gegen Korruption.

Zuerst die simple Frage: Wie hoch ist der Anteil  derjenigen, die in den letzten zwölf Monaten an politischen, sozialen, oder Umweltprotesten teilgenommen haben? Hier werden die Daten von zwei Fragen zusammengelegt – eine zu politischen und sozialen, und eine zu Umweltprotesten. Für die Ausdifferenzierung siehe unten.

Diese Grafik zeigt, dass Protest keineswegs ein allgemeines Phänomen ist: Lediglich 8,5 Prozent der Befragten haben im vergangenen Jahr überhaupt an einer Protestaktion teilgenommen – also weniger als jeder Zehnte .

Die Botschaft: Auch wenn Protest oft maßgeblich von jüngeren Menschen angetrieben wird, heißt das im Umkehrschluss noch lange nicht, dass eine Mehrheit der jüngeren Menschen protestiert.

Differenziert man zwischen Protesten mit politischen oder sozialen Themen einerseits (in der Umfrage wurden diese beiden zusammen erfragt) und Umweltprotesten andererseits, liegt der Anteil derjenigen, die protestiert haben, bei jeweils vier bis fünf Prozent.

Hier schließt sich unmittelbar die Frage an, welche Merkmale denn nun diejenigen, die protestieren, gemeinsam haben – und wie sie sich unterscheiden von Leuten, die lieber zuhause bleiben. Wenn sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler solche Fragen stellen, bilden sie üblicherweise Hypothesen – Aussagen über einen vermuteten, beobachtbaren Zusammenhang. Diese können aus der wissenschaftlichen Literatur kommen, aber auch aus eigenen Überlegungen. Sie werden dann anhand systematisch erhobener Daten überprüft.

Als Beispiel behaupten wir in Hypothese #1: Was soziale und politische Proteste angeht, spielt selbst in der Altersgruppe zwischen 16 und 34 Jahren das Alter insofern eine Rolle, als jüngere mehr protestieren als ältere – schließlich haben die Zeitungen ja von den „Schülern“ berichtet, die im Jahr 2017/18 auf die Straße gingen.

Die Linie zeigt: Je älter eine Person ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie im letzten Jahr an einem politischen oder sozialen Protest teilgenommen hat.

Wieso „Wahrscheinlichkeit“? Weil diese Untersuchung Aussagen über die Gesamtpopulation der jungen Großstädter treffen will – nicht nur über die tatsächlich Befragten. Zu lesen ist diese Grafik also so: Würden wir uns 100 durchschnittliche Sechzehnjährige aus der russischen Großstadtbevölkerung herausgreifen, können wir davon ausgehen, dass etwa fünf davon im vergangenen Jahr protestiert haben. Von 100 durchschnittlichen  34-Jährigen wäre es dagegen nur einer.

Gibt es außer dem Alter noch andere Einflussgrößen? Forscherinnen und Forscher, die sich mit den geografischen Trends von Protest in Russland beschäftigen, berichten zum Beispiel von einer Konzentration von Protest in Moskau und Sankt Petersburg. Entfiel in den Jahren 1997 bis 2000 nur etwa ein Zehntel der Proteste auf Moskau, so lag dieser Anteil im Jahr 2011 bei über 30 Prozent . Bei den absoluten Zahlen liegt Sankt Petersburg  gleich hinter Moskau. Es könnte deshalb sein, dass der Wohnort einen Effekt auf die Protestwahrscheinlichkeit hat: Leute in den „Hauptstädten“ Moskau und Sankt Petersburg, so die Hypothese #2, protestieren einfach mehr.

Wenn die Hypothese stimmt, dann sollte die rote Kurve über der schwarzen liegen. Dies würde zeigen dass, unabhängig vom Alter, Bewohner der beiden „Hauptstädte“ mit höherer Wahrscheinlichkeit protestieren.

Aber: fail. (Übrigens ein häufiges Gefühl unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern). Zwar liegt die rote Kurve oberhalb der schwarzen, aber die beiden sind so dicht beieinander, dass man daraus keinen Unterschied  zwischen den Gruppen ableiten kann.

Hier ist die Vermutung an den Daten gescheitert. Doch was zunächst vielleicht enttäuschen mag, bietet tatsächlich eine wichtige Erkenntnis: Die Daten zeigen, dass junge urbane Leute jenseits der Hauptstädte ebenso engagiert sind (zumindest was Protest betrifft). Hier wird einmal mehr deutlich, dass es nicht gerechtfertigt ist, den Blick auf Moskau einzuengen.

Als nächstes ist die wirtschaftliche Situation der Befragten an der Reihe. Es gibt in der Partizipationsforschung die Annahme, dass man ein gewisses Maß an Ressourcen benötigt, um sich politisch beteiligen zu können. Vereinfacht gesagt: Wer drei Jobs hat und trotzdem nicht über die Runden kommt, der wird seine Zeit nicht auch noch fürs Demonstrieren verwenden (siehe das collective action problem ). Andersherum könnte man auch argumentieren, dass gerade arme Menschen besonderen Grund  haben, politischen und sozialen Wandel zu fordern. Hypothese #3 könnte man also in beide Richtungen formulieren. Und das sagen die Daten dazu:

Schon wieder Fehlanzeige: Es gibt keinen systematischen und signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen. Der Wissenschaftler wird nervös.

Übrigens (diesmal ohne Grafiken) haben auch weder das Bildungsniveau noch das Geschlecht einen statistisch signifikanten Effekt auf die Protestwahrscheinlichkeit. Ja, was denn dann?

Hat politischer Protest eventuell etwas mit dem Vertrauen in den Präsidenten zu tun? Liegt ja irgendwie nahe. Wir nutzen dafür eine vierstufige Skala, auf der die Befragten ihr Vertrauen in Putin angegeben haben. Hypothese #4 ist also: Je weniger die Menschen Putin vertrauen, desto höher die Protestwahrscheinlichkeit (natürlich immer unter Kontrolle aller anderen Faktoren).

Tatsache.

Kennzeichnend ist hier: Es gibt keinen graduellen Unterschied zwischen den Vertrauenslevels. Einzig die Gruppe, die angibt, Putin „überhaupt nicht“ zu vertrauen, unterscheidet sich von den drei anderen. Zwischen letzteren gibt es keine signifikanten Abstufungen mehr. Dieses Anzeichen für eine Polarisierung des Protestverhaltens deutet darauf hin, dass mangelndes Vertrauen noch keine höhere Protestbereitschaft bedeutet – solange eine gewisse Schwelle nicht unterschritten wird. Da die Gruppe derjenigen, die Putin „überhaupt nicht“ vertrauen, mit knapp 14 Prozent der Befragten in der Gesamtstichprobe die kleinste ist,

wird nun auch ersichtlich, warum der Anteil der Protestierenden insgesamt nicht allzu hoch ausfällt.

Politischer und sozialer Protest jedenfalls ist auf den ersten Blick deutlich mit einer ablehnenden Einstellung zum Präsidenten verbunden. Wenn wir dagegen den Umweltprotest betrachten …

… sehen wir: Erneut haben die Befragten mit dem geringsten Vertrauen in Putin die höchste Protestwahrscheinlichkeit. Aber da die Konfidenzintervalle überlappen, reicht das nicht, um diesen Unterschied für die Gesamtpopulation zu behaupten. Umweltprotest hat – zumindest nach diesen Daten – also keineswegs immer etwas mit Putin zu tun. 

Aber noch ist nicht Schluss, denn: Keine wissenschaftliche Untersuchung ohne Conclusio.

Also. 

  1. Diejenigen jugendlichen Großstädterinnen und Großstädter, die überhaupt protestiert haben, bilden eine kleine Minderheit. 
  2. Politischer Protest scheint – auch in dieser untersuchten Gruppe der 16- bis 34-Jährigen – etwas mit dem Alter zu tun zu haben: Jüngere zeigen eine signifikant höhere Protestwahrscheinlichkeit.
  3. Außer dem Alter gibt es keine hier erfassten soziodemographischen Merkmale, die Protestierende gemeinsam haben: weder Bildung, noch Lebensstandard, noch Geschlecht, noch Wohnort zeigen statistische Effekte.
  4. Es gibt – wenig verwunderlich – einen Zusammenhang zwischen dem Vertrauen in Putin und der Protestwahrscheinlichkeit: je weniger vom ersten, desto höher das zweite.
  5. Dieser Zusammenhang – wie auch der Alterseffekt – stimmt für politischen und sozialen Protest, löst sich aber in Luft auf, wenn man Umweltprotest betrachtet.

Noch eine kleine Einschränkung: All diese Ergebnisse können durchaus von der Zeit abhängen, in der die Daten erhoben wurden. Immerhin hat Nawalny 2017 und 2018 viele junge Leute zu politischen Protesten mobilisiert . Vielleicht sieht es im nächsten Jahr schon ganz anders aus.


Jan Matti Dollbaumhat Politikwissenschaft und Slawistik in Heidelberg, Sankt Petersburg, Mainz und London studiert. Promoviert wurde er an der Universität Bremen mit einer Arbeit zu den Bedingungen von Protestentwicklung nach großen Mobilisierungswellen – mit einem Fokus auf lokalen Protest in Russland. Zurzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen.