Empörung, Schock und Spaß: Was motiviert zum Protest?

Ganz unterschiedliche Erfahrungen können Menschen zum Protest motivieren: etwa Empörung, Bedrohung – oder einfach Spaß, sagt Jan Matti Dollbaum.

Text: Jan Matti DollbaumVideo: Fontanka.ru10.09.2019

traßenprotest ist – streng genommen – für den Einzelnen oft irrational. Das heißt: Die Kosten (also das persönliche Risiko, der Einsatz, die Zeit, die man investiert…) überwiegen den individuellen Nutzen. Das ist, worauf Mancur Olson  in den 1960er hinwies und was als collective action problem in die Sozialwissenschaften eingegangen ist. 

In vielen Fällen würde zwar koordiniertes „kollektives Handeln“, zu dem auch Protest gehört, für alle Mitglieder einer Gruppe zu besseren Ergebnissen führen: Arbeiter können durch Streik höhere Löhne erzwingen, genauso wie Bürger durch anhaltende Proteste ihren Park vor der Zerstörung retten können.

Theoretisch. 

Denn sogar, wenn alle überzeugt sind, dass gemeinsames Streiken oder Protestieren effektiv ist, so ist es für jeden einzelnen – insbesondere in großen Gruppen – vollkommen rational, genau das nicht zu tun. Denn die „Kosten“ solcher Aktionen muss jeder Einzelne selbst tragen (etwa das Risiko, einen Knüppel ins Gesicht zu bekommen), wogegen der Nutzen – zum Beispiel der Park, der da weiter so schön grünt – auch denjenigen zugänglich ist, die nicht mit demonstriert haben. 

Das klassische Problem des Trittbrettfahrens also. Hinzu kommt, dass die Risiken (die möglichen Kosten, wie die Ökonomen sagen) in Russland wirklich hoch sein können:

Protestaktion „Er ist nicht unser Zar“ am 05.05.2017 in Moskau

Wenn man Menschen unterstellt, rational zu handeln, dann dürfte es also eigentlich weder in Russland noch sonstwo Proteste für öffentliche Güter  geben. Und trotzdem sind sie ja da, die tausenden Menschen, die im ganzen Land gegen Umweltverschmutzung, Korruption, Willkür, Sozialkürzungen und für Teilhabe am politischen Prozess auf die Straße gehen. Nicht immer zu Zehntausenden, nicht immer medienwirksam, und längst nicht immer mit politischem Hintergrund. Und zuweilen haben sie sogar Erfolg. Wobei Erfolg ganz Unterschiedliches bedeuten kann.

Wenn also das collective action problem die Fälle von geringer oder ganz ausbleibender Mobilisierung trotz himmelschreiender Ungerechtigkeiten erklärt, so bleibt es genau da unzureichend, wo trotz der hohen Kosten mobilisiert wird, und wo Menschen trotz der Möglichkeit des Trittbrettfahrens enorme Anstrengungen in Kauf nehmen.

Die Motivation und der Impuls zum Protest sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Exemplarisch für diese unterschiedlichen Mobilisierungswege stehen die folgenden drei Geschichten: 

lawa ist ein Bauingenieur aus dem Moskauer Umland . Er wollte schon immer am Waldrand leben. Eines Tages erfüllt er sich diesen Traum, erwirbt ein Grundstück und zieht aufs Dorf. Doch dann erfährt er, dass der Wald in der Nähe seines Grundstücks abgeholzt werden soll, weil eine Firma darauf große Häuser errichten will: 

„Für mich war das ein echter Schock. Der Grund, warum ich dorthin gezogen war, mein Traum, wenn man so will, all das wollen sie zerstören“

Er schreibt zunächst an den Gouverneur und erhält eine überraschende Antwort: Der Wald sei kein Wald, sondern ein „riesiges Moor“ und daher kein geschütztes Gebiet.

„Ich war damals juristisch ein vollkommener Depp – Moor kann einfach kein Privateigentum sein. Und die Gebietsverwaltung sagt uns einfach direkt ins Gesicht: „Ja, das ist Moor, und wir haben vor, es vollständig zu bebauen.“ 

Slawa beschreibt hier einen Schock, der vom Eindringen des Staates in seine private Umgebung  herrührt. Dieses Erlebnis zwingt ihn zur Verteidigung der ihm selbstverständlich gewordenen Lebenswelt  und führt ihn in den Aktivismus. Er beginnt, sich mit anderen Bewohnern seines Dorfes zusammenzuschließen, Journalisten einzuladen und Proteste zu organisierenn. Und längst beschäftigt er sich nicht mehr nur mit dem Schutz seines eigenen Waldstücks, sondern mit zahlreichen anderen lokalen Problemen. Er erklärt, viele davon seien der Korruption insbesondere der Regierungspartei geschuldet. 

Dieser Weg, der die Menschen über einen ungewollten Zusammenstoß mit den Behörden in eine Verteidigungsposition und so zum Protest bringt, ist wohl der häufigste. Er ist jedoch zugleich medial am wenigsten präsent: Solche lokalen Geschichten finden selbst in Regionalzeitungen oft keinen Platz. 

Ein weiteres Beispiel – wenn auch aus einer anderen Region und zu einem anderen Thema – kommt von Anatoli. Er wird mit 50 Jahren zum Aktivisten, als in der Nähe seiner Heimat Archangelsk eine große Deponie für Moskauer Müll gebaut werden soll:

Anatoli Bysow 
Protest gegen den Bau einer Mülldeponie in Schijes (Archangelskaja Oblast, 2019)

Sowohl Slawa als auch Anatoli begreifen sich nicht als oppositionell, vermeiden eine politische Positionierung und bezeichnen auch ihren Protest als „unpolitisch“ – obwohl sie de facto lokale wie regionale politische Ziele verfolgen. Das klingt paradox, doch es beschreibt das ambivalente Verhältnis vieler Protestierender zur Politik.

Protestcamp in Schijes (2019). Foto © Yulia Nevskaya

och es gibt auch Wege in den Protest, die direkt und explizit politisch sind. Da ist zunächst der sogenannte moral shock  – ein Erlebnis oder eine Beobachtung, die Menschen plötzlich erschüttert, aus ihren gewohnten kognitiven Mustern reißt und zum kollektiven Handeln antreibt – egal wie unwahrscheinlich es ist, dass gerade ihr persönlicher Beitrag zum Erfolg führt.


Irina aus Nishni Nowgorod kommt zum Protest, als der damals amtierende Präsident Dimitri Medwedew und Premierminister Wladimir Putin 2011 ankündigen, ihre Ämter zu tauschen: Putin soll wieder Präsident und Medwedew Premierminister werden:

„Ich erinnere mich sehr gut an den 24. September 2011, als diese ganze Rochade lief. Dieses Ganze von wegen „Ej, Leute, wir haben hier getauscht“, das hat mich bis in die Tiefen der Seele getroffen. Wobei ich das alles nicht mal richtig verstanden habe. Aber ich habe gespürt, dass das ein sehr historischer Moment ist“

Sie nimmt an den folgenden Protesten teil und lässt sich zur Beobachterin der Präsidentschaftswahl im März 2012 ausbilden. Als sie dort zu Beginn der Stimmauszählung gegen ihren Widerstand des Wahllokals verwiesen wird und dann die offiziellen Ergebnisse sieht, …

„ … da wurde mir sehr bewusst, dass es genau zwei Varianten gibt: Entweder ab zum internationalen Flughafen oder versuchen, etwas zu ändern. Nun, es ist offensichtlich, dass ich die zweite gewählt habe“ (Sie lacht.) 

Seitdem ist Irina schon mehrmals auf lokaler Ebene zu Wahlen angetreten und verpasst keine Demonstration der liberalen Opposition. 

er Einstieg kann aber auch weniger abrupt verlaufen – zum Beispiel wenn ihm eine langjährige Sozialisierung in der Familie vorangeht. Diese Erfahrung erleichtert den Einstieg und setzt sich dann während des Protests fort – gewissermaßen ein sich selbst verstärkender Prozess.

Anna aus Omsk erinnert sich, dass ihre Eltern immer zur Wahl gingen und den Wahltag wie einen Feiertag behandelten: 

„Vor den Dumawahlen 2011 begann eine Kampagne, dass unbedingt Beobachter in den Wahllokalen gebraucht werden. Ich habe mich in dem Wahllokal sehr ins Zeug gelegt, mich gut vorbereitet, alle Gesetze studiert, die Merkblätter, ich kam gut vorbereitet an … Dort war dann wirklich heilloses Chaos. Fälschungen gab es zwar nicht, aber die Mitglieder der Kommission kannten die Gesetze dermaßen schlecht, dass das alles völlig wüst ablief. Ich habe mich bei ihnen beschwert, jetzt ist mir klar, dass das zu emotional war, aber im Endeffekt habe ich erreicht, dass das Ganze beobachtet wurde und gesetzmäßig ablief. Das hat mir gefallen.

Die ersten Demos fanden am nächsten Tag statt, da versammelten sich Wahlbeobachter. Dann gab es Demos im ganzen Land, auch bei uns in Omsk, und das war so klasse, da waren so viele Menschen, und du siehst, dass es in Omsk so viele Menschen gibt, die so denken wie du, auch berühmte Leute, die du früher nur gelesen hast, und jetzt stehen sie neben dir. Das war alles echt super.“

Hier sieht man deutlich, wie eine Kombination aus biografischen Erfahrungen und hoch emotionalen Erlebnissen die rationale Logik des collective action problems außer Kraft setzen kann. Bei Anna klingt zudem an, dass, anders als bei Slawa und Irina, politisches Engagement und Protest sich nicht zwingend aus einer lebensweltlichen oder abstrakt-politischen Bedrohungssituation ergeben. Auch Neugierde, die Freude an gemeinsamer Aktion, oder der Wunsch, sein Schicksal gestaltend in die Hand zu nehmen, können Menschen auf die Straße bringen. 

Das russische Forscherteam des Public-Sociology-Lab hat viele solcher Menschen kennengelernt, die infolge der Bolotnaja-Proteste kleine Gruppen gegründet haben, um ihre beflügelnde Erfahrung der Proteste in konkrete, „kleine Dinge“  zu überführen – etwa den Einsatz für Parks und Grünflächen. So wollen sie die Zivilgesellschaft vor Ort beleben und eine „Politisierung“ aufrecht erhalten.

iese Pfade, die Slawa, Anatoli, Irina und Anna in den Protest geführt haben, sind nicht die einzigen, aber sehr typische Erfahrungsmuster, die zudem einen kritischen Blick auf das collective action problem erlauben: Sie lehren, dass Protest kaum zu erklären ist, wenn man ein starres rationales Menschenbild anlegt. Wer nur die eigenen Kosten, den persönlichen Einsatz gegen den eigenen Nutzen eines Protesterfolgs abwägt, wird selten zu dem Schluss kommen, dass es sich lohnt, ein Banner über die Straße zu tragen oder einen Sprechchor anzustimmen. 

Um Protestmotivation zu erklären, müssen oft andere Beweggründe angeführt werden. Da sind einerseits der moralische Schock und die existenzielle Bedrohung. In diesen Fällen erscheint Protest als die letzte Möglichkeit um einer unerträglichen Lebenssituation zu entrinnen – mag sie aus den praktischen Lebensumständen oder der moralischen Überzeugung herrühren. Zumindest in der Wahrnehmung der Betroffenen sind also die Handlungsoptionen stark beschränkt, sodass die Menschen gewissermaßen in den Protest hineingetrieben werden.

Andererseits ist da die Freude an der Gemeinschaftlichkeit: Wenn das Protestieren Spaß macht, wenn es zum Erlebnis wird, das man nicht verpassen will, dann hebt sich das collective action problem auf. Denn in diesem Fall bietet der Protest, ökonomisch gesprochen, einen selektiven Anreiz für die Teilnehmer, er verspricht einen persönlichen Nutzen und Gewinn, der über den Erfolg des Protests selbst hinausgeht. So stellt sich bei den Protestteilnehmern die Wahrnehmung ein: Wer lieber auf dem Sofa sitzt, ist selber schuld.

Weitere Stimmen der Aktivisten zur Motivation für Protest:

Die Frage „Was motiviert die Menschen zum Protest?“ lässt sich auch über andere Methoden beantworten – und zwar mittels Umfragen .


Jan Matti Dollbaum hat Politikwissenschaft und Slawistik in Heidelberg, Sankt Petersburg, Mainz und London studiert. Promoviert wurde er an der Universität Bremen mit einer Arbeit zu den Bedingungen von Protestentwicklung nach großen Mobilisierungswellen – mit einem Fokus auf lokalen Protest in Russland. Zurzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen.